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Kreative können digitale Rockstars werden

Sind elektronische Medien und Internet die Totengräber von Holzstiften und Farbe? Ganz im Gegenteil. Die Digitalisierung verhilft unbekannten Illustrator*innen zu Ruhm, inspiriert millionenfach Hobbykünstler*innen und erschließt ganz neue Einnahmequellen für traditionell Kreative. 


Vor ein paar Jahren kam die größte Buntstiftfabrik der Welt mit dem Produzieren nicht mehr nach. „Wir haben drei Schichten pro Tag gearbeitet und es schien trotzdem nicht genug“, erzählt Gui Almeida, heute Senior Social Media Manager International bei Faber-Castell. Damals arbeitete er noch selbst in Brasilien, wo die Fabrik in São Carlos etwa zwei Milliarden Stifte pro Jahr herstellt. Der Grund für die immense Nachfrage: Brasilien und die ganze Welt waren im Malbuch-Fieber. Unzählige Erwachsene legten sich Buntstifte zu, um zur Entspannung zu malen. „Ohne soziale Netzwerke wäre dieser Trend so nie entstanden“, sagt Almeida rückblickend: „Menschen haben sich gegenseitig bestärkt und die Entwicklung befeuert.“ 

„Früher war man allein. Heute findest du Gleichgesinnte.“

Gui Almeida, Senior Social Media Manager International bei Faber-Castell
Auch wenn das Ausmalen von Bildern keine Kunst im klassischen Sinn ist: Die Episode ist sinnbildlich für das, was Digitalisierung mit der kreativen Kunstszene gemacht hat, sowohl für Hobbykünstler*innen als auch für Profis. Die sozialen Netzwerke sind Katalysator geworden, Schaufenster und Inspiration. „Früher war man allein“, führt Almeida aus. „Heute findest du für jeden künstlerischen Stil, für jede Nische Gleichgesinnte.“ Das Netz bewirke so ein komplett anderes Gruppengefühl. Und das hat Auswirkungen.

„Kunst wird diverser, vielfältiger“


Isadora Zeferino ist ein Beispiel dafür. Die brasilianische Illustratorin verdankt ihre Karriere dem Internet – in mehrfacher Hinsicht. Während sie Biomedizin studierte, begann sie, Kunstwerke online zu stellen. „Weil ich gelangweilt war und in manchen Kursen vor mich hin gemalt habe“, erzählt sie. Ihre Bilder wurden entdeckt, bekamen Zuspruch. Zeferino baute Kontakt zu anderen Künstler*innen auf, traf eine Künstleragentin aus den USA – virtuell, versteht sich. Heute lebt Zeferino von ihrer Kunst, illustriert Comics, arbeitet für Computerfirmen und Werbefirmen oder zeichnet Buchcover. Zwischenzeitlich verkaufte sie ihre Kunst auch über einen Onlineshop. All das wäre ohne digitale Medien nicht möglich gewesen: „Erst recht, weil ich in Brasilien lebe“, sagt Zeferino. Bis vor einigen Jahren hätten US-Unternehmen weder die Möglichkeit noch die Idee gehabt, in Brasilien nach Illustrator*innen zu suchen. Auch dazu hat das World Wide Web geführt: Suchende aus der ganzen Welt heuern Künstler*innen aus der ganzen Welt an. „Das öffnet auch die Perspektive“, fügt Zeferino an. „Kunst wird diverser, vielfältiger.“ 
Das Netz ist aber nicht nur Netzwerk. Es hat auch Plattformen hervorgebracht, auf denen sich Geschäftsmodelle entwickeln konnten. „Unabhängige Kreative können jetzt von ihrer Kunst leben“, sagt Almeida. „Früher war das im Grunde völlig unmöglich.“ Heute können Zeichner*innen oder Illustrator*innen Crowdfundings veranstalten, Finanzierungswerkzeuge wie Patreon nutzen oder sich einfach von einzelnen Fans direkt beauftragen lassen. Sie haben auf diese Weise Kontakt zu Millionen potenziell zahlungswilliger Menschen. Diese geben Hobbykünstler*innen gleichzeitig den Impuls, an sich zu glauben und sich weiter zu professionalisieren. „Dank Digitalisierung können Kreative heute Rockstars werden“, drückt es Almeida aus. Das fördert auch künstlerische Nischensparten. Jede Kunstform finde eine Community, die sich für sie begeistert. Wie zum Beispiel Bleistiftzeichnungen, bei denen es darum geht, allein mit Grafit fotorealistische Bilder zu schaffen.  

Inspiration über den Bildschirm


Vor allem aber wirkt die Begeisterung in beide Richtungen: Nicht nur die Künstler*innen profitieren davon, auch die Liebhaber*innen werden inspiriert und all jene, die Kunst als Hobby sehen. „Kunst entsteht ja immer auch aus Inspiration“, erinnert Almeida. Online-Tutorials, Youtube-Videos oder Live-Sessions sorgen dafür, dass die interessierte Fangemeinde selbst experimentieren kann. Das sich daraus entwickelnde Interesse wiederum spüren Hersteller wie Faber-Castell: „Eine der häufigsten Fragen an Kreativschaffende ist nach wie vor: Welche Werkzeuge benutzt du?“, sagt Almeida. Wer also seinen Idolen nacheifern will, besorgt sich die passenden Stifte, Pinsel oder Farbschattierungen. Der Bereich „Art & Graphic“ von Faber-Castell ist in jüngster Vergangenheit jährlich um 30 Prozent gewachsen. Dadurch steige auch das Verständnis für Produkte, hat Almeida beobachtet. Während früher vor allem Profis mit bestimmten Stiften gearbeitet hätten, wüssten heute häufig Hobbykünstler*innen sehr genau, wozu dieser oder jener Stift sinnvoll sein kann. Digitalisierung, könnte man zugespitzt sagen, demokratisiert die Kunst. 
Das bemerken auch Anbieter von Onlinekursen. Ebenfalls ein Trend, der insbesondere seit Beginn der Pandemie noch einmal zugenommen hat. Faber-Castell selbst hat in den vergangenen Monaten unter dem Namen „Creative Moments“ solche Kurse ins Leben gerufen, bislang unter den Oberthemen Wasserfarben und Lettering. Dazu bekommen die Teilnehmenden im Vorfeld die passenden Produkte zugeschickt. Aus Sicht von Silke Bachmann, Head of Marketing International, Creativity & Digital bei Faber-Castell, liegt das hohe Interesse an den Kursen auch daran, dass im Zuge der Pandemie Präsenzveranstaltungen erschwert waren: „Wenn vor Ort andere die eigenen Versuche begutachten, gehört dazu schon Mut“, sagt Bachmann. Beim Onlinekurs muss niemand seine Kunstwerke zeigen. Die Digitalwelt bietet einen vereinfachten und geschützten Zugang für alle. „Wohnzimmer-Atmosphäre“ ist konsequenterweise auch das, was Faber-Castell bei seinen „Creative Moments“ als Ziel hat. Der Effekt des steigenden Interesses an Onlinekursen ist auf jeden Fall weltweit spürbar: Auch Künstler*innen wie Isadora Zeferino aus Brasilien bieten Kurse an, können sich auf diese Weise weitere Einnahmequellen erschließen – und nebenbei ihre Kunst oder ihren Kunststil populärer machen. 

„Die Hemmschwelle, sich mit Kunst zu beschäftigen, ist durch den digitalen Zugang gesunken.“

Silke Bachmann, Head of Marketing International, Creativity & Digital bei Faber-Castell

Teil einer Gemeinschaft


Digitalisierung führt also künstlerisch interessierte Menschen zusammen, stärkt Gemeinschaften – und führt bisweilen auch dazu, dass sich Communitys wild vermischen und gegenseitig inspirieren. Insbesondere über das Phänomen der „Challenges“, also Herausforderungen, die meist als Ideen einzelner Personen beginnen und sich dann wie ein Lauffeuer verbreiten. Bereits 2009 startete der Comiczeichner Jake Parker das Projekt, jeden Tag eine Illustration mit Tusche zu schaffen. Er wollte sich das Tuschezeichnen damit selbst beibringen. Andere Teilnehmer*innen sprangen auf. Heute führt der „Inktober“, ein Kofferwort aus Tusche (Ink) und Oktober, jedes Jahr zu über 20 Millionen Zeichnungen auf Instagram – und hat längst andere Challenges mit ihren eigenen überaus kreativen Kofferwort-Bezeichnungen hervorgebracht: vom „Mermay“, bei dem einen Mai lang Meerjungfrauen gemalt werden, bis zum „Huevember“, in dem im November jeden Tag eine andere Farbschattierung gewünscht ist. Weil Menschen nicht nur gern malen, sondern sich vor allem auch gern vergleichen, inspirieren lassen und Teil einer Gemeinschaft sein wollen, sind solche gemeinsamen Onlineaktionen aus Sicht von Almeida die beste Werbeveranstaltung für Kunst, die man sich denken kann.
Almeida verweist zudem auf beliebte Aktionen wie „Draw This in Your Style“, wo Künstler*innen andere auffordern, eines ihrer Werke auf eigene Art und Weise zu kopieren, zu verändern oder zu parodieren. Das Ergebnis ist nicht nur ein großes Happening der Kunstformen, es ist abermals auch die ideale Verbreitungsplattform: Bekannte Kreative geben unbekannteren eine Bühne – und bekommen gleichzeitig selbst breite Aufmerksamkeit. „Es ist eine wunderbare Inspiration und beeindruckend, Teil von so etwas zu sein“, sagt Almeida. „In solchen Momenten strahlt die Onlinegemeinschaft wirklich. Solche Aktionen machen den Unterschied.“ 

„Kunst darf Spaß sein“


Die Digitalisierung begeistert also zahlreiche Hobbykünstler*innen für Werkzeuge und Stifte – auch wenn insbesondere Profis häufig im Alltag schon gar nicht mehr mit klassischen Stiften und Farben arbeiten, sondern komplett digital auf dem Touchscreen zeichnen. Auch Illustratorin Zeferino macht das so. Und trotzdem: „Wenn ich mir Notizen oder Skizzen mache, kritzele ich auf Papier“, sagt sie. „Bleistifte oder Buntstifte werden niemals aussterben. Wir brauchen das Gefühl, mit der Hand zu zeichnen.“ Professionelle Kunst und Hobbykunst seien immer zwei Sphären gewesen, die sich überlappen. Die Digitalisierung hat beides gestärkt. „Ich bin über Kunst als Hobby zum Profi geworden, dank Internet“, sagt Zeferino. „Kunst soll und darf in erster Linie Spaß sein.“ 

Isadora Zeferino

© Domestika
Isadora Zeferino wurde 1993 im brasilianischen Rio de Janeiro geboren. In ihrem Zeichenstil kombiniert sie häufig florale Muster mit Figuren und kräftigen Farben. Die heute hauptberufliche Illustratorin brach ihr Biomedizinstudium ab, um stattdessen Grafikdesign zu studieren. Sie illustriert heute Buchcover für Verlage weltweit und arbeitet freiberuflich als Designerin für Unternehmen wie die amerikanische Computerspielefirma Riot Games, Disney oder Faber-Castell.
Instagram: @imzeferino